Beitrag für die Zeitschrift “Demokratische Gemeinde” Nr. 11/1995, S.22-23
Der erste Bürgerentscheid in einer nordrhein-westfälischen Großstadt fand Anfang September 1995 in Neuss am Rhein statt – und scheiterte an einer zu geringen Beteiligung.
106.000 Stimmberechtigte waren aufgefordert, über folgende Frage zu entscheiden: „Das Hotel an der Stadthalle wird nicht gebaut. Die Stadtverwaltung wird aufgefordert, den Kaufvertrag mit dem Investor rückgängig zu machen. (Ja/ Nein).“ Im Klartext ging es darum, ob an der Neusser Stadthalle ein Hotel gebaut werden soll. Anfang 1992 hatte die Stadtverwaltung die Öffentlichkeit mit dem Plan überrascht, durch den Bau eines 4-Sterne-Hotels an der Stadthalle und durch den Verkauf des Baugrundstücks den defizitären Haushalt zu entlasten. Als Bauherr war ein Investor aus Köln, als Betreiber des Hotels die Dorint-Hotelkette ausersehen.
Die unmittelbaren Anlieger protestierten: für den Hotelbau müßten im „Stadtgarten“, einer Grünzone, die sich quer durch die Innenstadt zieht, Bäume gefällt werden. Dennoch beschloß die damalige Ratsmehrheit aus CDU und FDP am 12.3.1993 drei Verträge abzuschließen: den Grundstückskaufvertrag, einen Pachtvertrag über das Stadthallenrestaurant und einen Bewirtschaftungsvertrag über den großen Stadthallensaal. Ein Jahr später erfolgte mit der gleichen Mehrheit die Beschlußfaßung über den Bebauungsplan.
Hätte der Investor danach stillschweigend mit dem Hotelbau begonnen, wären es zu den nachfolgenden Ereignisse nicht gekommen. Aber er machte drei entscheidende Fehler, die der Angelegenheit erst die nötige Öffentlichkeitswirksamkeit verliehen.
Erster Fehler: Mitte September 1994 stellte er in einer Pressekonferenz die Hotelplanungen vor und präsentierte sich bei der Gelegenheit als „gebürtiger Neusser und alter Schulfreund“ von CDU-Bürgermeister Bertold Reinartz, „mit dem er sich vor Jahren das Projekt ausgedacht habe“. Das ließ die Opposition aufhorchen, wurde doch gleichzeitig bekannt, daß der Bürgermeister von seinem „Schulfreund“ ein bislang unverkäufliches Villengrundstück erworben hatte. Sollte hier etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein? Zwar war dem Bürgermeister nicht nachzuweisen, daß er sein Baugrundstück nur deshalb erhalten hatte, weil er sich für den Hotelbau eingesetzt hatte, aber die Diskussion war eröffnet – schließlich stand die Kommunalwahl vor der Tür. Später kam noch ein weiterer Aspekt hinzu. Der Bürgermeister – im Hauptberuf Notar – hatte den Kaufvertrag beurkundet. Wieder ein gefundenes Fressen für die Opposition. War hier womöglich jemand befangen?
Anfang März 1995 machte der Investor seinen zweiten Fehler: Lange nachdem der Kaufvertrag unterzeichnet und die Bauplanungen vorgestellt worden waren, stellte er den bis dahin noch nicht unterzeichneten Pachtvertrag und den Bewirtschaftungsvertrag zur Disposition und forderte Nachbesserungen. Man solle ihm ein weiteres Stockwerk genehmigen und die Pachtzahlungen für zehn Jahre erlassen, sonst würde er aussteigen. Prima, sagte die SPD, und beharrte auf den Verträgen. Aber die CDU – nach der Kommunalwahl mit absoluter Mehrheit im Rat – kam den Wünschen des Investor im wesentlichen nach. Das brachte das Faß zum Überlaufen. Angeregt von B´90/Grüne und unterstützt von SPD, BUND und einem großen Hotel am Ort, das sich einen Konkurrenten vom Hals halten wollte, wurden ab Mitte April Unterschriften gegen den Hotelbau gesammelt. Da die nordrhein-westfälische Gemeindeordnung vorsieht, daß ein Bürgerbegehren im Zusammenhang mit Bauleitplänen unzulässig ist, achteten die Initiatoren des Bürgerbegehrens peinlich genau darauf, nicht gegen den Bebauungsplan des Hotels vorzugehen, sondern gegen den Verkauf des Grundstückes. Dieser war allerdings schon längst erfolgt, konnte also nicht mehr verhindert, sondern bestenfalls rückgängig gemacht werden. Es wurde deshalb die eingangs zitierte Fragestellung gewählt. Ein Satz, der später insofern für Verwirrung sorgte, als diejenigen, die gegen das Hotel waren, mit „Ja“ stimmen mußten. Ein Bürgerbegehren müssen, so schreibt es die Gemeindeordnung vor, 10% der Wahlberechtigten unterschreiben. In Neuss waren das 10.600 Unterschriften, die Hürde wurde mit 11.043 anerkannten Unterschriften knapp genommen.
Daß diese Zahl überhaupt zustande kam, hat seine Ursache im dritten Fehler des Investors. Er ließ nämlich am frühen Morgen des 16. Mai Bauarbeiter anrücken, die mit dem Fällen der Bäume begannen. Die sofort informierten Organisatoren des Bürgerbegehrens besetzten daraufhin den Bauplatz und erzwangen die Einstellung der Bauarbeiten. Eine Woche lang hielten sie den Bauplatz rund um die Uhr besetzt – und sammelten die zu diesem Zeitpunkt noch fehlenden Unterschriften.
Als sich abzeichnete, daß das Bürgerbegehren nicht – wie von der CDU erwartet – am gesetzlich vorgeschriebene Unterschrifts-Quorum scheitern würde, argumentierte die Ratsmehrheit formalistisch. Da man mit einem Bürgerbegehren in NRW juristisches Neuland betrete, müsse ein Rechtsexperte die Zulässigkeit prüfen. Die Wahl fiel auf den Staatsrechtler Prof. Dr. Fritz Ossenbühl, der schnell die gewünschte Expertise lieferte: das Bürgerbegehren sei unzulässig. Wenn ein Bürgerbegehren einen Ratsbeschluß rückgängig machen will, muß es, so sagt die Gemeindeordnung, innerhalb von sechs Wochen bzw. drei Monaten eingereicht sein. Da sich das Neusser Bürgerbegehren gegen den mehr als zwei Jahre alten Grundsatzbeschluß richte, sei die Frist abgelaufen und das Bürgerbegehren unzulässig.
Diese Rechtsauffassung stieß nicht nur bei den Initiatoren des Bürgerbegehrens auf Widerspruch, sondern war auch der CDU nicht eindeutig genug – eine Klage war schon angedroht. Vor einer endgültigen Entscheidung wollte die Mehrheitsfraktion ein Gegengutachten der Initiatoren des Bürgerbegehrens – und sie bat zusätzlich den Oberkreisdirektor als Kommunalaufsicht um Stellungnahme. OKD und Bürgerinitiative waren sich im Ergebnis einig: das Bürgerbegehren ist nicht zu spät eingereicht, weil der damalige Ratsbeschluß nur zusammen mit dem Beschluß über die nachverhandelten Verträge eine „sinnstiftende Entscheidung“ darstelle. Somit laufe die Frist erst ab diesem Zeitpunkt und das Bürgerbegehren sei fristgerecht eingereicht.
Angesichts dieser deutlichen Aussage konnte die CDU nicht umhin, dem Bürgerbegehren zwar nicht inhaltlich zu folgen, aber es zumindest als zulässig anzuerkennen. Da die NRW-Landesregierung von der Ermächtigung, eine Rechtsverordnung über die Durchführung eines Bürgerentscheids zu erlassen, keinen Gebrauch gemacht hat, konnte der Stadtrat die Regeln zur Durchführung selbst bestimmen. Die CDU nutzte diese Chance und schaffte erschwerte Bedingungen: eine Briefwahl wurde nicht zugelassen, obwohl die Briefwahlquote bei der letzten Wahl bei 15% lag. Außerdem wurde die Anzahl der Abstimmungslokale von hundert auf dreißig reduziert. Dagegen kamen die Initiatoren des Bürgerentscheids nicht an. Trotz eines heftigen „Wahlkampfs“ mit Plakaten, Handzetteln, Bierdeckeln und Werbespots im Lokalradio blieb die Wahlbeteiligung unter dem in der Gemeindeordnung festgelegten Quorum. Zwar stimmten fast 80% der Abstimmenden gegen das Hotel, aber auf die Gesamtwählerschaft bezogen waren das nur 18,5% – es hätten 25% sein müssen.
Fazit: der erste Bürgerentscheid in einer NRW-Großstadt ist an der mangelnden Beteiligung der Bürgerschaft gescheitert. Das hatte nicht nur mit politischer Apathie zu tun, sondern auch mit bewußt erschwerten Abstimmungsbedingungen. Die NRW-Landesregierung wäre gut beraten, in einer Rechtsverordnung festzulegen, daß bei der Durchführung von Bürgerentscheiden die Regelungen zur Kommunalwahl anzuwenden sind.
© Andreas Paust, 1995