Vortrag bei der Tagung Innenstadt 2019 „Wem gehört die Stadt? Von der Teilhabe bis zur Mitwirkung“ am 20. Mai 2019 in Mülheim an der Ruhr.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
als ich früher – sagen wir vor 40 Jahren – Informationen über die Entwicklung meiner Heimatstadt suchte, war ich auf die spärliche Berichterstattung in der Tageszeitung angewiesen. Um den Flächennutzungsplan oder einen Bebauungsplan einzusehen, musste ich zu den üblichen Dienststunden aufs Amt. Informationen über ein Infrastrukturprojekt musste ich mir mühsam zusammen suchen und umständlich erfragen. Und wenn ich dann eine Anmerkung machen oder einen Einwand erheben wollte, musste ich das schriftlich oder zur Niederschrift im Amt tun. Partizipative Stadtentwicklung war das nicht.
Da sind wir heute gottseidank weiter: heute finde ich nahezu alles zu einem Planungsprojekt im Internet. Ich kann zu jeder Tages- und Nachtzeit darauf zugreifen. Ich kann mir für deren Studium so viel Zeit lassen, wie ich möchte. Und Einwände kann ich mittlerweile auch per email äußern.
Aber noch zu oft belassen es die Verantwortlichen dabei, ihre mitunter mehrere hundert Seiten umfassenden Antragsunterlagen mit diversen Gutachten und detaillierten Plänen eins zu eins als pdf-Dateien ins Netz stellen. Das ist jetzt natürlich auch nicht der richtige Weg. Denn die Bürger so mit Informationen zu überwältigen, dass sie den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, verhindert eher, dass sie sich beteiligen. Das erzeugt doch vielmehr den Eindruck: „die haben ihre Pläne fix und fertig und wollen im Grunde gar nicht wirklich wissen, was ich davon halte“. Und das kann zu zweierlei Reaktionen führen: zu Apathie und Gleichgültigkeit oder zu Misstrauen und Ablehnung, was Widerstand und Protestreaktionen hervorruft. Und Sie alle kennen sicher Projekte, die durch gewaltsame Widerstände oder auch – ganz geordnet – durch Bürgerentscheide gestoppt wurden. Beides – Apathie und Ablehnung – ist für unsere Demokratie schädlich und deshalb muss – so meine erste These – partizipative Stadtentwicklung heute kooperativ statt konfrontativ sein.
Wer die Stadt entwickeln und gestalten will, kann das nicht ohne oder gar gegen die Bürger machen, sondern muss das mit ihnen tun. Das aber setzt Dialogbereitschaft voraus. Das erfordert Kommunikation auf Augenhöhe. Das setzt voraus, dass nicht Akzeptanzbeschaffung für längst getroffene Entscheidungen das oberste Ziel ist, sondern Ideengenerierung. Partizipative Stadtentwicklung fragt nicht: „was hältst du von dem Plan, den ich dir hier vorlege?“ Sondern sie fragt: „wie können wir gemeinsam die beste Lösung für unsere Stadt finden?“
Deshalb, meine Damen und Herrn,
muss partizipative Stadtentwicklung – meine zweite These – frühzeitig beginnen und Gestaltungsspielräume eröffnen. Bürgerbeteiligung muss bei jedem Projekt von Anfang an mitgedacht werden. Sie darf nicht erst beginnen, wenn sich die ersten Proteste artikulieren, kritische Leserbriefe erscheinen oder bereits Unterschriften für ein Bürgerbegehren gesammelt werden. Zu jedem Projektstart gehört ein gründliches Nachdenken über die Frage: wer wird sich durch meine Planungen betroffen fühlen? Welche Sorgen könnte ich durch meine Planungen auslösen?
Je nachdem wie Antwort ausfällt, muss ein Beteiligungskonzept entwickelt werden, das echte Beteiligungsangebote für die Bürger enthält. Je früher mit der Beteiligung begonnen wird, desto mehr Beteiligungsangebote kommen in Frage. Wenn bereits Grundsatzentscheidungen getroffen oder gar Verträge mit Externen geschlossen wurden, gibt es kaum noch Spielräume für die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger.
Ich habe, meine sehr geehrten Damen und Herren,
bisher immer von „Bürgerinnen und Bürgern“ gesprochen. Das ist natürlich etwas pauschal. Denn partizipative Stadtentwicklung heute denkt nicht nur an die Bürger, also an die Bewohner mit Wahlrecht, sondern auch an die anderen Einwohner: Kinder und Jugendliche, Zuwanderer, aber auch an Pendler und Touristen. Und sie denkt vor allem an diejenigen Menschen, die weder in der Lage sind, noch die Zeit haben, sich mit mehrhundertseitigen Antragsunterlagen zu beschäftigen. Partizipative Stadtentwicklung ist offen für diejenigen, die sich beteiligen wollen. Und sie unterstützt diejenigen, die sich nicht beteiligen können.
Das heißt – These Nr. 3 – Partizipative Stadtentwicklung heute bezieht viele Bevölkerungsgruppen ein und vermeidet Beteiligungsungleichheit.
Das bedeutet: es reicht nicht, einen Aushang im Rathaus zu machen oder eine Anzeige in der Tageszeitung zu schalten. Um die sogenannten „stille Gruppen“ zu erreichen, muss man dahin gehen, wo diese sind: ins Einkaufszentrum, auf den Spielplatz, an die Haustür. Oder auch ins Netz: auf Facebook, Twitter, Instagram und Snapchat. Auf diese Weise können verschiedene Zielgruppen über verschiedene, für sie geeignete Beteiligungsangebote erreicht werden.
Meine Damen und Herren,
Oft wird darüber geklagt, dass sich immer nur dieselben „Protestbürger“ beteiligen. Aber das mag vielleicht daran liegen, dass den anderen nicht deutlich wurde, deutlich gemacht wurde, inwiefern eine Planung ihr Leben beeinflusst. Deshalb gehört zu einer partizipativen Stadtentwicklung auch, den Menschen anschaulich zu vermitteln, inwiefern eine Planung sie angeht, wie sie sich daran beteiligen können und vor allem – was sie davon haben, wenn sie sich beteiligen.
Und dazu muss partizipative Stadtentwicklung heute – These Nr. 4 – professionell und kreativ sein. Die Durchführung einer zweistündigen Einwohnerversammlung an einem Wochentagabend reicht in der Regel nicht aus. Es gibt heutzutage zahlreiche neue Formate, die zielgruppengerecht eingesetzt werden können. Das reicht von Planungsworkshops, bei denen Bürger und Experten gemeinsam über Lösungen für ein Problem nachdenken, über Ortsbegehungen, bei denen Bürger ihre Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten einbringen können, bis hin zu Verfahren mit zufällig ausgewählten Teilnehmern, die Handlungsempfehlungen für den Stadtrat erarbeiten.
Und zunehmend werden auch digitale und online-Formate eingesetzt: Crowdmapping, also die Kommentierung von Maßnahmen durch das Setzen von Markierungen auf einem internetbasierten Stadtplan, 3-D-Visualisierungen und Virtual Reality, die es den Menschen erlauben, sich ein Bild von den Planungen zu machen, sogenannte Serious Games, wie Minecraft, mit denen Kinder und Jugendliche eigene Gestaltungsidee am Rechner entwickeln und präsentieren können.
Meine Damen und Herren,
das alles gibt es nicht um umsonst. Deshalb meine fünfte These: Partizipative Stadtentwicklung heute verfügt über finanzielle, personelle und zeitliche Ressourcen.
Der Verein Deutscher Ingenieure hat in einer Richtlinie niedergelegt, dass 1% eines Projektbudgets für Bürger- und Öffentlichkeitsbeteiligung aufgewendet werden sollte. In der Praxis wird diese Zahl – so zeigen wissenschaftliche Studien – regelmäßig deutlich unterschritten. Aber: wie sagt der Rheinländer: „wat nix kostet, dat is auch nix“. Und deshalb ist auch nicht verwunderlich, dass nach wie vor zahlreiche Projekte scheitern, weil ausgerechnet an der Beteiligung gespart wurde.
Aber es geht nicht nur um Geld, es geht auch um den klugen Einsatz von Personal. Zunehmend schaffen Kommunen Beteiligungsbeauftragte oder richten Stabsstellen zur Bürgerbeteiligung ein. Das sind Einrichtungen, die darauf achten, dass die Bürger frühzeitig und angemessen bei Planungen beteiligt werden und die den verantwortlichen Planern dabei helfen, gute und erfolgreiche Bürgerbeteiligung durchzuführen.
Und schließlich wird zunehmend erkannt, dass Bürgerbeteiligung Zeit benötigt: selten ist es mit einer einzigen Bürgerversammlung getan, meistens ist Bürgerbeteiligung ein Prozess, der sich über Monate, ja Jahre hinzieht, weil sie den gesamten Planungsprozess begleitet. Gute Bürgerbeteiligung koppelt jeden Planungsschritt mit der Bürgerschaft zurück. Und sorgt so für eine kontinuierliche Anpassung der Planung. Nicht zuletzt mit dem Ziel, teure und langwierige Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden.
Partizipative Stadtgestaltung heute kostet Zeit, Geld und Personalaufwand. Und viele möchten lieber gern darauf verzichten. Aber ich möchte daran erinnern, dass der Verzicht auf Bürgerbeteiligung schon manches Projekt aufgrund von Protesten verzögert oder gar komplett verhindert hat. Und mitunter hat fehlende oder schlechte Beteiligung die Verantwortlichen den Kopf gekostet.
Deshalb, meine Damen und Herren, meine letzte These: Bürgerbeteiligung kann teuer sein, aber keine Bürgerbeteiligung kann teuer werden!