Beitrag für den Blog des Berlin Instituts für Partizipation.
Für die Bürgerbeteiligungsszene fällt dieses Jahr Weihnachten in den Juni. Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestages, schenkt ihr einen „Bürgerrat“. 160 per Los ausgewählte Bürgerinnen und Bürger sollen ein Gutachten zur Rolle Deutschlands in der Welt erarbeiten. So hat es ausweislich einer kurzen Pressemitteilung der Ältestenrat des Bundestages auf Schäubles Vorschlag hin beschlossen. Das ist ein guter Schritt zur Öffnung parlamentarischer Prozesse für Bürgerinnen und Bürger. Das bringt die Bürgerbeteiligung in Deutschland voran. Die Freude über diese Maßnahme ist deshalb berechtigt. Jedoch sollte sich die Beteiligungsszene im Überschwang der Gefühle den kritischen Blick auf die Gabe des Bundestagspräsidenten nicht trüben lassen. Denn wie das so ist mit Geschenken, man bekommt nicht immer das, was man sich wünscht. Und manches Geschenk entpuppt sich als Danaergeschenk.
Eigentlich wartet die Bürgerbeteiligungsszene schon seit zwei Jahren auf die Einsetzung einer Expertenkommission, „die Vorschläge erarbeiten soll, ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann“. So haben es schließlich CDU, CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag 2018 vereinbart – ein Novum und ein Hoffnungsschimmer für alle Partizipationsenthusiasten. Aber trotz mehrfacher Nachfrage – auch aus den Reihen des Bundestages – sind die Vorbereitungen der Bundesregierung zu dieser Expertenkommission bis heute nicht abgeschlossen. Das ist angesichts der Schnelligkeit, mit der andere Expertenkommissionen einberufen werden, eine klare Ansage der Regierung: wir wollen diese Kommission nicht.
Nun waren von Anfang an nicht alle, die sich professionell mit Bürgerbeteiligung beschäftigen, glücklich über die Idee einer Expertenkommission, in der vermutlich ausschließlich nach Parteienproporz ausgewählte Fachleute gesessen hätten, ohne dass es eine direkte Mitwirkungsmöglichkeit der Bürger gegeben hätte. Auch sahen es manche lieber, wenn die Kommission in Form einer Enquetekommission beim Bundestag und nicht bei einem Bundesministerium – gar beim Innenministerium – angesiedelt sein würde.
Dennoch zeigt der Vorgang zweierlei: CDU, CSU und SPD nehmen selbst nicht ernst, was sie miteinander vereinbart haben. Das ist ihr Problem – vor allem das der Parteimitglieder, die über den Koalitionsvertag abstimmen durften. Schlimmer ist, dass die ehemaligen Volksparteien nach wie vor erheblich beim Thema Bürgerbeteiligung fremdeln. Das ist unser aller Problem.
Deshalb gebührt Akteuren aus der Zivilgesellschaft großer Dank, die diese Entwicklung lange kommen sahen und deshalb die Sache selber in die Hand nahmen. Wenn es keine Expertenkommission gibt, die Vorschläge erarbeitet, ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden, dann müssen wir das eben selber tun. Sagten sich Mehr Demokratie e. V. und die Schöpflin Stiftung und führten 2019 den „Bürgerrat Demokratie“ durch. Nach sechs Regionalkonferenzen in verschiedenen deutschen Städten, für die sich jede*r Interessierte bewerben konnte, berieten 160 zufällig ausgeloste Bürgerinnen und Bürger an zwei Wochenenden in Leipzig über ebenjene Frage, an die sich die Große Koalition nicht rantraut. Es entstand ein „Bürgergutachten Demokratie“ mit insgesamt 22 Empfehlungen zur Weiterentwicklung unserer Demokratie3).
Am „Tag für die Demokratie” am 15. November 2019 wurden die Ergebnisse u.a. an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble übergeben. Und da versprach Schäuble das Geschenk, das er bis jetzt offensichtlich nicht liefern konnte: „ich (empfehle) sehr, dass wir im Bundestag uns damit beschäftigen und auch versuchen, das umzusetzen.“ Er hatte wohl damals schon geahnt, dass daraus nichts wird und schob deshalb nach: „(Ich) verspreche Ihnen, dass ich im Rahmen meiner begrenzten Möglichkeiten mich dafür einsetze, dass wir die Chance für eine Stabilisierung unserer Demokratie tatkräftig nutzen.“ Tatsächlich gab es im Bundestag bisher nie eine Debatte zum Bürgergutachten Demokratie. Hier wirkt sich der entscheidende Webfehler eines von der Zivilgesellschaft selbstorganisierten Gutachtens aus: warum soll sich der Bundestag mit etwas beschäftigen, das er gar nicht bestellt hat – da könnte ja jeder kommen.
Das wird beim „Bürgergutachten Deutschlands Rolle in der Welt“ – oder wie genau es auch heißen mag – anders sein. Dieses ist bestellt, und die erarbeiteten Handlungsempfehlungen sollen Anfang 2021 vorliegen, „so dass sie noch in dieser Legislaturperiode diskutiert werden können“ . Es kommt jetzt darauf an, wie die Bundestagsverwaltung den Beschluss umsetzt, und wie die Fraktionen mit dem Bürgergutachten umgehen werden.
Zu klären ist die genaue Fragestellung. Was genau wird unter der Überschrift „Deutschlands Rolle in der Welt“ diskutiert? Deutschlands Abstimmungsverhalten in internationalen Gremien oder das militärische Engagement in Krisenregionen? Welche Handlungsempfehlungen könnten herauskommen? Empfehlungen zum Umgang mit Fluchtbewegungen oder zur Höhe des Verteidigungsetats?
Ist Deutschlands Rolle in der Welt überhaupt ein Thema, das die Menschen in diesen Zeiten von Corona und Klimawandel bewegt? Auch wenn man nicht bei der Debatte im Ältestenrat dabei war, kann man vermuten, dass das gewählte Thema das Einzige war, auf das sich die Fraktionen einigen konnten. Das lässt befürchten, dass jede politische Richtung etwas anderes damit verbindet. Ist sich der Auftraggeber Bundestag klar, was er mit dem Bürgergutachten erreichen will?
Wenn 160 zufällig ausgeloste Bürgerinnen und Bürger, die sich für das Thema sicher finden lassen, „an drei Wochenenden im Austausch mit Expertinnen und Experten“ diskutieren, werden mit Sicherheit spannende Handlungsempfehlungen dabei herauskommen. Ob sie etwas mit der Lebenswirklichkeit der Menschen in diesem Land zu tun haben, wird sich zeigen. Das wird sicherlich auch davon abhängen, ob es bei der Auswahl der Teilnehmer*Innen gelingt, den angekündigten „gesellschaftlichen Querschnitt der Bevölkerung Deutschlands“ herzustellen. Denn dann dürfen nicht nur „Bürgerinnen und Bürger“, sondern müssen auch „Einwohnerinnen und Einwohner“ dabei sein, zu denen Migrant*Innen, Jugendliche und andere Nicht-Wahlberechtigte gehören. Gerade bei dem gewählten Thema ein nicht zu vernachlässigender Aspekt.
Vollkommen unklar ist zum jetzigen Zeitpunkt, was mit den Ergebnissen des Bürgerrats passieren soll. „Mit diesen Empfehlungen haben die Fraktionen eine zusätzliche Grundlage, um politische und regulatorische Ideen und Programme weiter zu entwickeln“ heißt es in der Pressemitteilung des Bundestages. Werden die Fraktionen Anträge stellen? Werden sie ihr Abstimmungsverhalten in denjenigen Fachausschüssen anpassen, die Themen beraten, die Deutschlands Rolle in der Welt betreffen? Wird es eine Regierungserklärung der Kanzlerin und eine Generaldebatte im Deutschen Bundestag zu den Handlungsempfehlungen geben? Oder werden die Parteien bei der Vorbereitung der nächsten Bundestagswahl ihre Wahlprogramme daran ausrichten? Sollte nichts oder kaum etwas davon passieren, würde nicht nur dem Thema, sondern auch dem Beteiligungsformat „Bürgerrat“ großer Schaden zugefügt.
Und damit wäre dem Hauptanliegen des Bundestagspräsidenten, wenigstens etwas von seinem versprochenen Geschenk zu liefern, ein Bärendienst erwiesen. „Es geht neben der Bearbeitung des genannten Themas vornehmlich auch darum“, so Schäuble, „zu erforschen, ob ein solches neues Instrumentarium zur Unterstützung der parlamentarischen Arbeit taugt, und ein für die Bedingungen Deutschlands auf Bundesebene geeignetes Format zu entwickeln.“ Kein Zweifel dürfte daran bestehen, dass der Bürgerrat handwerklich sauber durchgeführt werden kann. Es gibt in der deutschen Beteiligungsszene genügend Expertise für die Durchführung guter deliberativer Prozesse. Vollkommen unklar ist aber, wie die Fraktionen und Parteien mit dem Instrument Bürgerrat umgehen werden. Ob sie dessen Ergebnisse respektvoll diskutieren oder ihnen in politischen Debatten den nötigen Ernst versagen.
Wenn also der „Bürgerrat Rolle Deutschlands in der Welt“ scheitert, dann wird es mit großer Sicherheit vorerst keine weiteren Öffnungsversuche des Bundestages für mehr Bürgerbeteiligung geben. Dann würde sich Schäubles vorgezogene Weihnachtsgabe als Danaergeschenk entpuppen. Wenn aber der Bürgerrat erfolgreich sein sollte, dann steht der langfristigen Institutionalisierung eines Bürger- bzw. Beteiligungsrats auf Bundesebene, wie ihn kürzlich auch die Friedrich-Ebert-Stiftung ins Gespräch brachte6), nicht mehr viel entgegen. Dann wäre Schäubles Geschenk am Ende womöglich die bessere Gabe gewesen.