Auf gutem Weg: die Entwicklung der Bürgerbeteiligung

Vortrag beim Forum „Bürgerbeteiligung als Anforderung und Chance“ der Deutschen Bundesgartenschau-Gesellschaft am 10. Oktober 2018 in Bonn.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich möchte Sie mit einer These begrüßen:

Bürgerbeteiligung macht glücklich.

In wenigen Tagen endet die Landesgartenschau in Bad Iburg in Niedersachsen. Ich hatte im August Gelegenheit sie zu besuchen. Und wie immer, wenn ich in einer fremden Stadt bin, informierte ich mich bei Wikipedia über die dortigen politischen Verhältnisse. Mir fiel mir auf, dass die CDU bei der Kommunalwahl 2016 gegenüber der vorhergehenden Wahl sage und schreibe 33%-Punkte verloren, die FDP dagegen 25%-Punkte dazugewonnen hatte. Ich dachte zunächst an einen spektakulären Skandal oder den Wechsel von Ratsmitgliedern von der CDU zur FDP. Aber weitgefehlt. Offensichtlich war die Landesgartenschau daran schuld:

Der Erfolg der Freidemokraten ist wohl vor allem auf die Debatte um die Landesgartenschau zurückzuführen, die im übernächsten Jahr in Bad Iburg stattfinden soll. Im vergangenen Jahr hatte eine Ratsmehrheit, aufgeschreckt von Nachrichten über erhebliche finanzielle Folgelasten früherer Landesgartenschauen, gegen das Projekt gestimmt. Daraufhin war es zu einem Bürgerentscheid gekommen, in dem sich die Mehrheit für die Landesgartenschau aussprach. Die FDP hatte sich klar auf die Seite der Befürworter geschlagen, womöglich rührt daher jetzt der Erfolg bei der Kommunalwahl. (Quelle: https://www.rundblick-niedersachsen.de/bad-iburg-wird-die-fdp-staerkste-partei/)

Auf dem Weg zum Gartenschaugelände kam an einem Ladenlokal vorbei, das als Sitz des Fördervereins der Gartenschau Anlaufstelle für Informationen über aktuelle Entwicklungen und zukünftige Planungen zum Gartenschaugelände ist.

Der Fall Bad Iburg zeigt exemplarisch die Veränderungen, die sich in den letzten – sagen wir 40 Jahren – in unserer Demokratie vollzogen haben. Die repräsentative Demokratie („Wahlen“) ist um direktdemokratische Elemente („Bürgerentscheid“) und durch dialogische Elemente („Kommunikationsbüro“) ergänzt worden.

Als ich vor 40 Jahren begann, mich für Politik zu interessieren, war das noch ganz anders. Mitwirkungsangebote zu aktuellen politischen Ereignissen gab es für mich damals nicht. Wenn ein neues strittiges Thema hochkam, konnte ich mich einer Bürgerinitiative anschließen und dagegen demonstrieren – aber das war dann Protest und keine Bürgerbeteiligung. Eingeladen, Kommentare abzugeben oder Änderungsvorschläge zu machen, war ich nicht. Protest war im Einzelfall durchaus erfolgreich. Aber das waren Widerstandsaktionen, die von unten ausgelöst wurden und selbstorganisiert stattfanden; es war keine Bürgerbeteiligung, wie wir sie heute kennen.

Aber was zeichnet die heutige Bürgerbeteiligung aus? Das möchte ich darstellen anhand des Bildes einer Pyramide.

Die unterste Stufe der Pyramide, das Fundament jeglicher Bürgerbeteiligung ist die Information. Zu wissen, dass etwas geplant ist und was genau geplant ist, ist die Voraussetzung von Bürgerbeteiligung. Information allein ist noch keine Bürgerbeteiligung, aber ohne Information ist Bürgerbeteiligung nichts.

Und wie war das vor 40 Jahren? Ich erinnere mich, dass ich mich irgendwann für die städtebauliche Entwicklung meiner Kommune interessierte und den Flächennutzungs- und die Bebauungspläne einsehen wollte. Im Einzelfall wollte ich auch eine Stellungnahme abgeben und Anregungen geben. Das konnte ich, musste dazu aber erst mal aufs Amt.

Der Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams aus dem Jahr 1979 beginnt damit, dass für den Bau einer Umgehungsstraße das Haus des Protagonisten Arthur Dent weichen muss. Es findet dazu folgender Dialog statt:

(Der städtische Beamte) Mr. Prosser sagte: “Sie hatten ja durchaus das Recht, zu geeigneter Zeit Vorschläge und Proteste zu äußern.”
“Zu geeigneter Zeit?” schimpfte Arthur (Dent). “Zu geeigneter Zeit? Zum ersten Mal habe ich was davon gehört, als gestern ein Arbeiter bei mir aufkreuzte. Ich fragte ihn, ob er zum Fensterputzen gekommen wäre, und er sagte, nein, er sei gekommen, um das Haus abzureißen. Natürlich hat er mir das nicht gleich gesagt. Nein, erst hat er ein paar Fenster geputzt und auch noch fünf Pfund dafür verlangt. Dann erst hat er mir’s gesagt.”
“Aber Mr. Dent, die Pläne lagen die letzten neun Monate im Planungsbüro aus.”
“O ja. Als ich davon hörte, bin ich gestern Nachmittag gleich rübergegangen, um sie mir anzusehen. Man hatte sich nicht gerade viel Mühe gemacht, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Ich meine, dass man’s jemandem gesagt hätte oder so.”
“Aber die Pläne lagen aus…”
“Lagen aus? Ich musste schließlich zuerst in den Keller runter…”
“Da werden sie immer ausgehängt.”
“Mit einer Taschenlampe.”
“Tja, das Licht war wohl kaputt.”
“Die Treppe auch.”
“Aber die Bekanntmachung haben Sie doch gefunden, oder?”
“Jaja”, sagte Arthur, “ja, das habe ich. Ganz zuunterst, in einem verschlossenen Aktenschrank, in einem unbenutzten Klo, an dessen Tür stand: Vorsicht, bissiger Leopard!”

So war das – ich erinnere mich noch gut – 1979. (Na gut, einen Leoparden musste ich nicht überwinden.)

Und heute? Heute ist aus dem bissigen Leopard eine zahme Katze geworden. Denn heute finden wir fast alles im Internet: Pläne, Erläuterungen, Gutachten. Heute haben wir eher das Problem, dass uns zu viele Informationen zur Verfügung stehen. Und was wir finden, ist teilweise kaum verständlich.

Als vor zwei Jahren der Düsseldorfer Flughafen Pläne zur Erweiterung seine Kapazitäten veröffentlichte, bemängelte ein Bürger, es sei ihm kaum möglich, die mehr als 1.200 Seiten Antragsunterlagen mit 75 Karten und Diagrammen zu lesen und zu verstehen. Das NRW-Verkehrsministerium als Planfeststellungsbehörde aber meinte:

Die Unterlagen müssen insbesondere für Anwohner, Kommunen und Umweltverbände die erforderlichen Informationen enthalten, um Art und Ausmaß der jeweiligen eigenen Betroffenheit erkennen und hierauf gegebenenfalls Einwendungen gründen zu können. Dies war der Fall.

Hochkomplizierte Antragsunterlagen in Form von pdf-Dateien ins Internet zu stellen, ist also zulässig, ob es auch sinnvoll ist, ist eine andere Frage.

Aber das Schöne ist: es geht heute anders. Komplexe Sachverhalte lassen sich heute nutzerfreundlich vermitteln. Statt umfangreiche Aktenbestände einzustellen bzw. ergänzend dazu, kann man die Unterlagen aufbereiten: durch Grafiken und Schaubilder, durch Erklärfilme, durch Übersetzung in einfache Sprache.

Beispielhaft finde ich eine Broschüre der Stadt Mannheim zur Vorbereitung des Bürgerentscheids im Jahr 2013 zur Mannheimer Buga 2023. In dieser Broschüre wurde über das Projekt Bundesgartenschau in Leichter Sprache informiert. Ich zitiere aus dem Vorwort:

Liebe Mannheimer und liebe Mannheimerinnen,
Sie dürfen abstimmen.
Das nennt man Bürger-Entscheid.
Die Frage ist:
Machen wir die Bundes-Garten-Schau in Mannheim?
Der Gemeinde-Rat sagt:
Wir wollen die Bundes-Garten-Schau im Jahr 2023 in Mannheim haben.
Die Abkürzung dafür ist BUGA.
Das ist ein großes Vorhaben.
Darum fragen wir Sie, ob Sie das auch wollen.
Die BUGA kann erst im Jahr 2023 sein.
Das ist in 10 Jahren.
Aber Sie entscheiden schon am 22. September 2013.
Denn die Planung einer BUGA dauert lange.
Die Firma, die eine BUGA mit der Stadt Mannheim zusammen machen kann, heißt
Bundes-Garten-Schau-Gesellschaft.
Die Firma muss unsere Entscheidung bis Januar 2014 wissen.

Und so weiter. Ich denke, Sie haben das Prinzip verstanden.

Daraus ergibt sich ein erster Tipp für alle, die Bürgerbeteiligung durchführen – ein Zitat des Verlegers Joseph Pulitzer:

Schreibe kurz – und sie werden es lesen.
Schreibe klar – und sie werden es verstehen.
Schreibe bildhaft – und sie werden es im Gedächtnis behalten.

Mr. Pulitzer redet hier nur vom Schreiben – aber die neuen Medien erlauben uns heute darüber hinaus ganz andere Möglichkeiten der verständlichen und anschaulichen Information. Schon jetzt können wir mit Visualisierungen und Animationen Infrastrukturprojekte so darstellen, dass man

  • sich virtuell in einer Landschaft bewegen kann,
  • selber einen gewünschten Standort einnehmen kann und
  • sich im wahrsten Sinne des Wortes ein „eigenes Bild“ von den Planungen machen kann.

Die Entwicklungen zur Virtual bzw. Augmented Reality werden in Zukunft die Möglichkeiten der Information – und damit der Bürgerbeteiligung – weiter revolutionieren. Der Übertragungsnetzbetreiber TenneT hat das perfektioniert, in dem er neulich in Berlin ein Büro „Virtual Vision“ eingerichtet hat, in dem er mit Hilfe von State-of-the-art-Technologien und multimedialen Inhalten über den Bau und den Betrieb von Stromleitungen informiert.

Damit komme ich zur nächsten Stufe der Bürgerbeteiligungs-Pyramide – zur Konsultation.

Wenn ich mir von einem Projekt eine Bild gemacht habe, dann will ich möglicherweise auch Hinweise geben zu dem, was ich gesehen habe, oder Änderungsvorschläge dazu machen.  Das konnte ich im Prinzip auch schon vor 40 Jahren – aber es war ungleich umständlicher und weniger effektiv.

Bis heute in seiner klassischen Form überlebt haben die Bürgerversammlung und der sogenannte „Erörterungstermin“. Klassische Erörterungstermine sind eine formalisierte Versammlung, bei der Vertreter von Verbänden und Juristen, aber auch Betroffene in den fachlichen Austausch mit Projektverantwortlichen und Behördenvertretern gehen. Da wird dann lang und breit – nicht selten über mehrere Tage – über Einwendungen zu einem Projekt diskutiert, es werden Paragraphen zitiert und Gutachten wiedergegeben. Es handelt sich um Frontalveranstaltungen, bei denen ein echter Dialog zwischen Bürgern und Projektverantwortlichen nicht stattfindet. Wer das schon mal miterlebt hat, wird mir zustimmen, wenn ich sage: ein grauenhaftes Ereignis, eine Verschwendung von Lebenszeit.

Heute aber – auch hier sei der Technik gedankt – gibt es zahlreiche Möglichkeiten, Veranstaltungen interaktiv zu gestalten.

  • Bürgerversammlungen können gestaltet werden in Form eines Infomarktes, bei dem die Besucher im persönlichen Gespräch mit Experten ihre Fragen stellen und detaillierte Anregungen machen können.
  • Bürgerversammlungen können interaktiv gestaltet werden, mit elektronischen Tools wie  eVoting-Geräten, speziellen Handy-Apps oder eine Twitterwall, bei denen sich alle Teilnehmer einbringen können, auch wenn sie sich vielleicht nicht öffentlich äußern wollen oder bei einer Großveranstaltung nicht drankommen.
  • Bürgerversammlungen können aus ihrem strikten Raum-/Zeitkorsett befreit werden, indem sie live ins Internet übertragen, bzw. für späteres Ansehen auf einer Projektwebsite oder bei youtube eingestellt werden.
  • Und schließlich: die Ergebnisse von Bürgerversammlungen können auf einer online-Plattform zum Nachlesen und – für einen gewissen Zeitraum – zum Kommentieren bereitgestellt werden. Auf diese Weise können sich auch diejenigen einbringen, die nicht persönlich anwesend sein konnten.

Mein nächster Tipp also lautet:

Verzichten Sie auf Frontalveranstaltungen und gestalten Sie Ihre Veranstaltungen interaktiv.

Das gilt auch für die Einladung zu ihren Veranstaltungen. Anders als vor 40 Jahren lesen zunehmend weniger Menschen eine Tageszeitung. Mehr und mehr Menschen informieren sich online und über soziale Medien. Trotzdem belassen es immer noch zu viele Verantwortliche dabei, ihre Bürger­beteiligungsangebote in der Zeitung anzukündigen – um sich dann zu wundern, dass

a)  zu wenige
b)  die Falschen oder
c)   immer die Gleichen kommen.

Aber wenn man immer gleich einlädt, muss man sich nicht wundern, wenn immer die Gleichen kommen.

Deshalb mein nächster Tipp:

Nutzen Sie sämtliche Kommunikationswege für die Einladung zu Ihren Bürgerbeteiligungsformaten.

Bis jetzt habe ich nur über Bürgerversammlungen und Erörterungstermine gesprochen, aber Bürgerbeteiligung umfasst viel mehr. Auch das ist heute übrigens anders als vor 40 Jahren. Damals gab es einmal eine Versammlung, und das war es dann.

Heute wird Bürgerbeteiligung als Prozess verstanden. Beispielhaft nenne ich den Ablauf der Bürgerbeteiligung, den das Verkehrsministerium Mecklenburg-Vorpommern vor einigen Jahren zur Planung einer Umgehungsstraße in Waren an der Müritz durchgeführt hat. Das Verfahren dort dauerte mehr als 9 Monate und bestand aus einer Vielzahl von Veranstaltungsformaten:

  • klassischen Bürgerversammlungen
  • Zielgruppenworkshops
  • Ortsbegehungen
  • einer dauerhaften online-Beteiligungsmöglichkeit

Bürgerbeteiligung wurde hier als eine Abfolge von aufeinander aufbauenden Beteiligungsformaten konzipiert. Und so sollte es immer sein, denn bei Bürgerbeteiligung ist es nur selten mit einer einzigen Veranstaltung getan. Gute Bürgerbeteiligung ist ein Prozess über einen längeren Zeitraum.

Dazu mein nächster Tipp, der aus zwei Teilen besteht:

Planen Sie Bürgerbeteiligung als eine zeitliche Abfolge von unterschiedlichen Beteiligungsformaten.

Wählen Sie die Beteiligungsformate passend zu den Projekterfordernissen aus.

Was den letzten Punkt angeht, möchte ich noch einmal zurück kommen auf den Fall des Düsseldorfer Flughafens mit den 1.200 Seiten Antragstext. Hier gab die Bezirksregierung den Bürgern den Tipp, im Zweifel eigene Gutachten in Auftrag zu geben. Das ist natürlich wohlfeil gesprochen, wenn man nicht für die Kosten aufkommen muss.

Der Düsseldorfer Flughafen aber war – man glaubt es kaum – tatsächlich so generös, den Fluglärm-Gegnern 100.000 Euro zur Verfügung zu stellen, um eigene Gutachten zu beauftragen. Der BUND begrüßte das:

Wir fordern seit langem, dass in Planungs- und Genehmigungsverfahren „Waffengleichheit“ herrschen muss, zum Beispiel auch was die Hinzuziehung von externen Experten oder Gutachtern anbelangt. Da dies regelmäßig die finanziellen Möglichkeiten von Betroffenen oder Umweltverbänden übersteigt, ist der Flughafen-Vorschlag meines Erachtens ein begrüßenswerter Schritt. Wichtig ist, dass daran keinerlei Vorgaben geknüpft werden und die Ergebnisoffenheit des Verfahrens garantiert ist.

Ich stelle mir allerdings die Frage, was eigentlich gewonnen ist, wenn am Ende des Tages sich möglicherweise widersprechende Gutachten auf dem Tisch liegen und das ganze Verfahren in einen Expertenstreit ausartet.

Deshalb komme ich zur der dritten Stufe der Bürgerbeteiligungs-Pyramide – der Kooperation.

Kooperation geht über Konsultation hinaus, weil die Beteiligten nicht einfach nur Anregungen geben und Einwendungen machen dürfen, denen gefolgt wird – oder auch nicht. Kooperation meint, dass die Akteure gemeinsam versuchen, einen Kompromiss oder eine alternative Lösung zu finden oder dass sie gleichberechtigt an der Umsetzung eines Projekts arbeiten.

Und da wäre es beim Fall der 100.000 Euro für das Gutachten der Fluglärm-Gegner aus meiner Sicht besser, wenn sich Flughafen GmbH und Fluglärm-Gegner gemeinsam auf einen oder mehrere Gutachter verständigen würden – und im Vorfeld erklären würden, dessen Schlussfolgerungen auch zu akzeptieren. Und noch besser ist es, man setzt sich zusammen und konzipiert gemeinsam einen Beteiligungsprozess, einschließlich der Auswahl von Gutachtern.

Um herauszufinden, wer die Betroffenen sind, ist eine sogenannten „Stakeholder-Analyse“ unverzichtbar. Bei einer Stakeholder-Analyse werden durch Recherchen, Medienauswertungen und Gesprächen mit wichtigen Akteuren vor Ort diejenigen Menschen identifiziert, die von dem jeweiligen Projekt betroffen sind – oder sich betroffen fühlen könnten. Und das sind nicht immer nur die Anlieger oder die Vertreter bestimmter Interessengruppen oder die wahlberechtigten Einwohner eines Ortes. Das können auch Kinder und Jugendliche, Zuwanderer, Pendler, oder – für Gartenschauen natürlich besonders interessant – Besucher aus den Nachbarorten und Touristen sein. Hierzu mein nächster Tipp:

Beteiligen Sie die Betroffenen – bzw. deren Vertreter – an der Gestaltung des Beteiligungsprozesses.
Führen Sie dazu eine Stakeholder-Analyse durch.

Identifizieren Sie die wichtigsten Stakeholder und klären Sie mit diesen die sie berührenden Fragen gemeinschaftlich. Nicht nur, welche Gutachter man beauftragt, sondern auch:

  • wen man beteiligt,
  • welche Beteiligungsformate man einsetzt, um die Zielgruppen zu erreichen,
  • was schon entschieden ist und was noch gestaltbar ist,
  • wie lange der Beteiligungsprozess dauern soll,
  • wer welche Ressourcen einbringt,
  • und vor allem: was mit den Ergebnissen des Beteiligungsprozesses passieren soll.

Die Klärung all dieser und weiterer Fragen gehört zu einem guten Bürgerbeteiligungsprozess.

Was aber das allerwichtigste bei Bürgerbeteiligung ist: Sie muss frühzeitig anfangen. Dazu mein nächster Hinweis:

Beginnen Sie mit der Bürgerbeteiligung, wenn es noch Handlungsspielräume gibt.
Wenn schon alles entschieden ist, dann nennen Sie es nicht Bürgerbeteiligung, sondern Information.

Aber solange sollten Sie nicht warten, denn nur, wenn Sie früh mit Bürgerbeteiligung beginnen, haben Sie die Chance, dem sogenannten „Beteiligungs-Paradoxon“ zu entgehen. Dieses Paradoxon besagt, dass ausgerechnet dann, wenn die Einflussmöglichkeiten der Menschen am höchsten sind, also am Anfang, in der Konzeptionsphase eines Projektes, ihr Interesse daran am geringsten ist. Demgegenüber ist das Interesse der Menschen dann am höchsten, wenn die Mitwirkungsmöglichkeit­en am geringsten sind. Also dann, wenn alles soweit geklärt, entschieden und beschlossen ist, dass die Bagger anrücken können, werden die Menschen aufmerksam und fordern Mitsprache – um dann zu erfahren, dass sie viel zu spät dran sind. Aber dann sind auch Sie als Verantwortliche zu spät dran.

Damit hängt ein weiteres Paradoxon zusammen, das ich – mangels eines besseren Begriffs „Anschnall-Paradox“ nennen möchte

Wenn Sie an Bürgerbeteiligung denken, ist es bereits zu spät.

Es ist wie mit dem Anschnallen: wenn Sie es nicht tun, denken Sie erst daran, wenn es bereits zu spät ist und sie im Graben liegen. Deshalb müssen Sie eine Haltung entwickeln, bei der Sie ohne nachzudenken mit Bürgerbeteiligung beginnen, weil sie Ihnen in Fleisch und Blut übergegangen ist. So wie es heute beim Autofahren ist: kaum hat man sich reingesetzt, greift man automatisch nach links zum Gurt und schnallt sich an, ohne darüber nachzudenken.

Und dann kommt es darauf an, die richtigen Beteiligungsformate – passend zum Projektfortschritt – auszuwählen. Für die Einbeziehung der Menschen gibt es mittlerweile – auch da sind Forschung und Praxis um Vieles weiter als vor 40 Jahren – zahlreiche Formate:

  • Planungswerkstätten
  • Runde Tische
  • Bürgerräte
  • Bürgergutachten

Um nur einige wenige zu erwähnen. Es sind alles Verfahren, bei denen Bürger untereinander und mit Experten diskutieren und dabei gemeinsam Lösungen für die Umsetzung eines Projekts erarbeiten:

  • Wo genau verläuft eine neue Stromtrasse?
  • Wo werden Windräder errichtet?
  • Welchen Verlauf nimmt eine neue Umgehungsstraße?
  • Wie wird ein Spielplatz gestaltet?
  • Welchen Auftrag erteilen wir den Landschaftsarchitekten?

Aber auch:

  • Wie sieht der zukünftige Kulturentwicklungsplan einer Kommune aus?
  • Was sind die Inhalte des städtischen Leitbildes?
  • Wie reagiert unsere Kommune auf den demografischen Wandel?

Es gibt zahlreiche Themen – nicht nur aus dem Planungsbereich – die gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern beraten und entschieden werden können – natürlich auch zahlreiche Fragen rund um eine Gartenschau.

Der Pyramide, die sich zwischenzeitlich aufgebaut hat, fehlt – so könnte man meinen – die Spitze. Was wäre die Spitze der Bürgerbeteiligung? Die wäre dann erreicht, wenn die Bürger über ein Projekt oder die Ergebnisse eines Beteiligungsprozesses durch eine Abstimmung entscheiden. Ich meine den Bürgerentscheid auf kommunaler und den Volksentscheid auf Landesebene, das was „direkte Demokratie“ genannt wird.

Welche Bedeutung der Bürgerentscheid für das Thema Gartenschauen hat, möchte ich Ihnen an ein paar wenigen Zahlen illustrieren. Der „Datenbank Bürgerbegehren“ der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung an der Bergischen Universität Wuppertal konnte ich folgende Zahlen entnehmen: seit 1984 wurde 25-mal über Bürgerbegehren zu Landes- (20 Fälle) oder Bundesgartenschauen (5 Fälle) diskutiert. Manche waren unzulässig, manche wurden aus anderen Gründen nicht weiterverfolgt.

Gestoppt per Bürgerentscheid wurden zwei Landesgartenschauen in Bayern:

  • die Landesgartenschau 2022 in Traunstein: 63% dagegen (Abstimmungsbeteiligung 51,6%)
  • die Landesgartenschau 2024 in Erlangen: 69,3% dagegen (Abstimmungsbeteiligung 41,7%)

Andererseits gab es aber auch spektakuläre Bürgerentscheide pro Gartenschauen:

  • die Bundesgartenschau 2023 in Mannheim: 50,7% dafür (Abstimmungsbeteiligung: 59,5%)
  • die Landesgartenschau 2018 in Bad Iburg/Niedersachsen: 61% dafür (Abstimmungsbeteiligung 54,8 %)

Ein besonderer Fall stellt die Landesgartenschau 2020 in Überlingen am Bodensee dar. Hier hat der Rat weit im Voraus von sich einen Bürgerentscheid anberaumt – einen sogenannten Ratsbürgerentscheid. Die Frage „Sind Sie dafür, dass die Stadt Überlingen 2020 die Landesgartenschau ausrichtet?“ beantworteten 59,6% mit JA.

An diesen Beispielen sehen Sie, dass die Spitze der Bürgerbeteiligungspyramide mitunter der Entscheid ist. Allerdings gibt es bekanntlich – bei den Mayas – auch Pyramiden ohne Spitze. Das heißt, nicht jede Bürgerbeteiligung muss mit einer Abstimmung enden. Wenn es aufgrund guter Informations-, Konsultations- und Dialogmaßnahmen gelingt, Zustimmung für ein Projekt zu erhalten – ggfls. auch stillschweigende Zustimmung – ist ein Bürgerentscheid zur Legitimierung nicht nötig. Entscheidend ist, was die Stakeholderanalyse ergeben hat und wie ausgeprägt die Protest- und Beteiligungskultur einer Kommune ist.

Meine Damen und Herren,

ich habe bisher von projektbezogener Bürgerbeteiligung gesprochen. Wir beobachten aber zunehmend, dass in deutschen Kommunen Schritte für eine nachhaltige Beteiligung gegangen werden. Bekanntester Vorreiter ist die Stadt Heidelberg. Sie hat sich 2012 – übrigens nach einem verlorenen Bürgerentscheid –

  • Leitlinien für Bürgerbeteiligung gegeben,
  • diese Leitlinien als kommunale Satzung verabschiedet und
  • eine Koordinierungsstelle für Bürgerbeteiligung im Rathaus geschaffen.

Kernelement der Heidelberger Leitlinien ist eine Vorhabenliste, die eine Auflistung aller geplanten städtischen Projekte mit einer Darstellung der geplanten Bürgerbeteiligungsmaßnahmen enthält.

Eine solche Vorhabenliste erlaubt es

  • der Verwaltung, frühzeitig an Bürgerbeteiligung zu denken und
  • der Öffentlichkeit, sich frühzeitig über geplante Projekte zu informieren und bei Bedarf Bürgerbeteiligung einzufordern.

Zahlreiche Städte, Kreise und Gemeinden in ganz Deutschland sind in den vergangenen Jahren dem Beispiel Heidelbergs gefolgt und haben Beauftragte, Stabsstellen oder Koordinierungsbüros für Bürgerbeteiligung eingerichtet. Und Fachausschüsse und Beiräte für Bürgerbeteiligung geschaffen.

Beteiligungsbeauftragte sind übrigens potentielle Ansprechpartner für die Verantwortlichen für Gartenschauen. Deshalb mein nächster Tipp für alle Projektverantwortlichen:

Arbeiten Sie mit den lokalen Akteuren der Bürgerbeteiligung (Beauftragter, Beirat, Ausschuss etc.) zusammen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich habe bisher von der kommunalen Ebene gesprochen. Aber auch auf Landes- und Bundesebene hat die Bürgerbeteiligung in den vergangenen 40 Jahren große Fortschritte gemacht.

Zunehmend stellen Landesregierungen oder Landtage Gesetzentwürfe zur Kommentierung für die Bürger ins Internet. Führend ist dabei Baden-Württemberg, wo es schon seit ein paar Jahren eine Beteiligungsplattform für Gesetzentwürfe des Landes gibt.

Nicht zuletzt dank einer besonderen Dame ist Baden-Württemberg bei der Bürgerbeteiligung ganz weit vorne: Gisela Erler, seit 2011 Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung mit Kabinettsrang. Frau Erler steht einer Stabstelle beim Ministerpräsidenten vor, deren Aufgabe es ist, die Projekte aller Ministerien zu identifizieren, Möglichkeiten der Beteiligung zu unterstützen oder vorzuschlagen, zu planen und zu begleiten.

Soweit sind wir auf Bundesebene noch nicht. Aber immerhin findet sich in der Koalitionsvereinbarung der Großen Koalition ein Passus, der in der Bürgerbeteiligungsszene hohe Erwartungen ausgelöst hat:

Wir werden eine Expertenkommission einsetzen, die Vorschläge erarbeiten soll, ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann.

Noch ein letztes Wort zur Bundesebene. Ich möchte Sie auf das größte bundesweite Beteiligungsverfahren aufmerksam machen, das derzeit läuft, für das aber leider das Motto gilt: „Stell dir vor, es ist Bürgerbeteiligung, und keiner weiß davon.“ Ich spreche vom Verfahren zur Suche eines Endlagers für radioaktive Abfälle. Hierfür wurde vom Bundestag eigens ein unabhängiges Gremium geschaffen, das auf eine gute Beteiligung bei der Endlagersuche achten soll – das sogenannte „Nationale Begleitgremium“, in dem u.a. zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger mitarbeiten.

Und schließlich gibt es ja auch noch die europäische Ebene. Auch hier versucht etwa die EU-Kommission seit einiger Zeit, die Bürger in Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Z.B. in Form von Konsultationen (wie vor kurzem zur Frage der Sommerzeit). Oder in Form der sogenannten Europäischen Bürgerinitiative, mit deren Hilfe 1 Mio. Europäer aus 7 Nationen ein Thema auf die politische Agenda setzen können.

Alles dies sind Ansätze auf Landes-, Bundes- und europäischer Ebene für eine bessere Information und Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in Entscheidungsprozesse, die es vor 40 Jahren nicht gab.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Früher war alles schlechter.

Diesen Titel trägt eine Rubrik im Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Wöchentlich wird darin mit einer anschaulichen Grafik darüber informiert, wie sich unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten zum Besseren verändert hat.

Wir erfahren,

  • dass sich die durchschnittliche Wohnfläche seit 1972 fast verdoppelt hat.
  • dass die Zahl der Banküberfälle in den vergangenen Jahren enorm gesunken ist,
  • dass wir Männer zwischen 1900 und 1980 um 11 Zentimeter größer geworden sind.

Zum Thema Bürgerbeteiligung habe ich dort leider keine passende Grafik gefunden, aber ich habe Ihnen hoffentlich auch so deutlich gemacht, dass es auf allen politischen Ebenen Veränderungen zum Besseren gegeben hat

Aber es bleibt noch viel zu tun. Denn Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Und an diesem Prozess müssen wir alle mitarbeiten. Das ist nicht immer einfach; in Abwandlung eines Spruchs von Karl Valentin sage ich deshalb immer:

Bürgerbeteiligung ist schön, macht aber viel Arbeit.

Aber die viele Arbeit ist häufig von Erfolg gekrönt, und deshalb sage ich auch:

Bürgerbeteiligung macht glücklich.

Herzlichen Dank für Ihr Interesse.