Erfolgsbedingungen und Wirkungen von kommunalen Bürgerbegehren

Vortrag bei einer Tagung des „Kommunalpolitischen Forums Sachsen“ am 15. November 2003 im Sächsischen Landtag, Dresden

Bürgerbegehren in Sachsen

Zwischen Oktober 1990 und Oktober 2002 gab es in Sachsen insgesamt 162 Bürgerbegehren. Davon hatten 97 Bürgerbegehren die Gebietsreform und 8 Bürgerbegehren die Abwahl von Bürgermeistern zum Gegenstand. Mit Sachthemen befassten sich 57 Bürgerbegehren. Das entspricht knapp 5 Bürgerbegehren zu Sachfragen in Sachsen pro Jahr. Von den 57 Bürgerbegehren haben 32 einen Bürgerentscheid nach sich gezogen oder sind vom Gemeinderat übernommen worden. Während es in den ersten acht Jahren 29 Bürgerbegehren waren, sind es in letzten vier Jahren 28 gewesen; und in der „Bürgerbegehrenshochburg“ Dresden gab es zwischen 1995 und 2001 immerhin sieben Bürgerbegehren. (Quelle: Landtag Sachsen, Drs. 2/9107 und 3/7088; eigene Berechnungen) Bürgerbegehren und Bürgerentscheid sind noch keine verbreiteten Bürgerbeteiligungsverfahren, aber ihre Bedeutung nimmt zu.

1. Bekanntheitsgrad

Damit das Instrument Bürgerbegehren weiter verbreitet wird und erfolgreich angewendet werden kann, muss es bekannt sein. Wer nicht weiß, welche Möglichkeiten und Grenzen das direktdemokratische Verfahren bietet, wird nicht viel zu seinem Erfolg beitragen – weder als Organisator noch als Stimmberechtigter. Deshalb trägt jedes Bürgerbegehren zum Bekanntheitsgrad dieses Instruments bei und zieht potentielle weitere Begehren nach sich.

2. Verfahrensregelungen

Damit ein Bürgerbegehren Erfolg hat – und unter Erfolg soll an dieser Stelle verstanden werden: es ist rechtlich zulässig – muss es die in der Gemeindeordnung aufgestellten Bedingungen erfüllen. In Sachsen sind diese in § 25 SächsGemO geregelt.

(1) (…) Das Bürgerbegehren muß mindestens von 15 vom Hundert der Bürger der Gemeinde (…) unterzeichnet sein; die Hauptsatzung kann ein geringeres Quorum, jedoch nicht weniger als 5 vom Hundert festsetzen. Ein Bürgerbegehren darf nur Angelegenheiten zum Gegenstand haben, über die innerhalb der letzten drei Jahre nicht bereits ein Bürgerentscheid aufgrund eines Bürgerbegehrens durchgeführt worden ist.
(2) Das Bürgerbegehren muß eine mit ja oder nein zu entscheidende Fragestellung und eine Begründung enthalten sowie drei Vertreter bezeichnen, die zur Entgegennahme von Mitteilungen und Entscheidungen der Gemeinde und zur Abgabe von Erklärungen ermächtigt sind. Das Begehren muß einen nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren Vorschlag zur Deckung der Kosten der verlangten Maßnahme enthalten. Richtet es sich gegen einen Beschluß des Gemeinderats, muß es innerhalb von zwei Monaten nach der öffentlichen Bekanntgabe des Beschlusses eingereicht werden.

Zu beachten ist weiterhin der so genannte „Negativkatalog“ aus § 24 der
SächsGemO:

(2) Ein Bürgerentscheid findet nicht statt über
1. Weisungsaufgaben,
2. Fragen der inneren Organisation der Gemeindeverwaltung,
3. Haushaltssatzungen und Wirtschaftspläne,
4. Gemeindeabgaben, Tarife und Entgelte,
5. Jahresrechnungen und Jahresabschlüsse,
6. Rechtsverhältnisse der Gemeinderäte, des Bürgermeisters und der Gemeindebediensteten,
7. Entscheidungen in Rechtsmittelverfahren,
8. Anträge, die gesetzwidrige Ziele verfolgen.

Zusammengefasst sind es folgende Verfahrensregeln, die den Erfolg eines Bürgerbegehrens unmittelbar beeinflussen:

  • Negativkatalog und Fragestellung
  • Begründung
  • Kostendeckungsvorschlag
  • Vertretungsberechtigte
  • Sperrfrist
  • Einleitungsfrist
  • Einleitungsquorum.

Schon wenn eine dieser Regeln verletzt wird, ist das Bürgerbegehren unzulässig – und damit erfolglos. Vier dieser Regeln – Negativkatalog, Kostendeckungsvorschlag, Einleitungsfrist und Einleitungsquorum – sind erfahrungsgemäß von besonderer Bedeutung.

In Sachsen ist der Negativkatalog – ähnlich wie in Bayern – vergleichsweise schmal. Viele Themen, die beispielsweise in Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen von vornherein der Abstimmung entzogen sind, sind hier zulässig. Das gilt insbesondere für alles, was mit Verkehr und mit Bauen zu tun hat. In Sachsen gibt es insofern gute Startbedingungen für Bürgerbegehren.

Allerdings wird ein Kostendeckungsvorschlag verlangt. Dies ist eine Bedingung, die in der Praxis große Probleme bereitet. Denn die Organisatoren des Bürgerbegehrens müssen angeben, wie die Kosten für die verlangte Maßnahme aufgebracht werden können, und das umfasst sowohl die Herstellungskosten als auch die Folgekosten. Wer beispielsweise ein neues Schwimmbad haben möchte, der muss angeben, wie die Kommune die Baukosten und die Betriebskosten aufbringen kann. Letzteres gilt selbst dann, wenn es nur darum geht, das Schwimmbad zu erhalten – und das dürfte derzeit eher die Regel sein. In Zeiten katastrophaler kommunaler Finanzen mit nicht genehmigten Haushalten bzw. unter der Kuratel von Haushaltssicherungskonzepten wird die Formulierung eines durchführbaren Kostendeckungsvorschlags zunehmend schwieriger. Denn es ist ja gerade die schwierige Haushaltslage, die Räte dazu zwingt, Schwimmbäder und Bibliotheken zu schließen und städtisches Eigentum zu veräußern. Wenn aber schon der Rat nicht mehr weiß, wo er denn stattdessen einsparen kann oder wie er die Einnahmen erhöhen kann, wie sollen das Organisatoren eines Bürgerbegehrens können? In Nordrhein-Westfalen werden zunehmend Bürgerbegehren für unzulässig erklärt, weil der Kostendeckungsvorschlag nicht ausreicht.

Wenn mit einem Bürgerbegehren ein Ratsbeschluss aufgehoben werden soll, und das ist beim überwiegenden Teil aller Bürgerbegehren der Fall, muss eine Einleitungsfrist von zwei Monaten eingehalten werden. D.h. innerhalb von acht Wochen nach dem Ratsbeschluss müssen Fragestellung, Begründung und Finanzierungsvorschlag formuliert, Unterschriftenlisten angefertigt und die benötigten Unterschriften gesammelt und eingereicht werden. Diese Frist ist vergleichsweise kurz: in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen hat man dafür drei Monate Zeit, in Bayern gibt es gar keine  zeitliche Vorgabe.

Letzte große Hürde ist das sogenannte Einleitungsquorum, das in Sachsen vom Grundsatz her bei 15% liegt, in der Hauptsatzung der Gemeinde allerdings auf 5% gesenkt werden kann. Das ist übrigens eine sächsische Besonderheit, die sonst nirgends gibt. Vielerorts, z.B. in Leipzig und Chemnitz, ist das Quorum entsprechend gesenkt worden. Aber auch dort, wo das nicht der Fall ist, wie z.B. in Dresden, ist diese Hürde durchaus überwindbar. Problematisch an der sächsischen Regelung ist allerdings der unterschiedliche Umgang mit dem Einleitungsquorum. Es ist schwer zu erklären, warum in Leipzig 5% der Bürger für ein Bürgerbegehren ausreichen, im ungefähr gleich großen Dresden aber dreimal soviele Unterstützer nötig sind. Hier ist im Sinne einer „Gleichartigkeit der Lebensverhältnisse“ eine landeseinheitliche Regelung nötig.

3. Hinreichende Bedingungen

Bisher wurden nur von den formalen Voraussetzungen gesprochen, die ein Bürgerbegehren erfüllen muss, damit es zulässig ist – gewissermaßen die notwendigen Bedingungen. Damit es auch Erfolg hat – Erfolg jetzt verstanden als Unterstützung durch die Bürgerinnen und Bürger – müssen weitere, hinreichende Bedingungen erfüllt werden:

  • Es muss sich um ein Thema handeln, zu dem ein Bürgerbegehren nicht nur zulässig ist, sondern das auch von allgemeinem Interesse ist und die Menschen bewegt – der Verkauf von öffentlichem Eigentum (Wohnungen, Wasser- und Stromversorgung, Verkehrsbetriebe) ist ein solches Thema, zu dem derzeit überall in Deutschland Bürgerbegehren stattfinden.
  • Das Begehren muss durch glaubwürdige Vertretungspersonen vertreten werden – das können, wie bei einem Bürgerbegehren gegen Wohnungsverkäufe in Aachen, überparteiliche Organisationen wie der Mieterverein, der Katholikenrat und die IG
    Metall sein.
  • Das Bürgerbegehren muss durch starke Bündnispartner unterstützt werden und ausreichende personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung haben; diese Maßgaben gelten insbesondere in Großstädten. Zu einem solchen Unterstützerkreis können auch Parteien und Ratsfraktionen gehören.

4. Direkt erfolgreiches Bürgerbegehren

Bisher wurde Erfolg eines Bürgerbegehrens definiert als „rechtlich zulässig“ und als „Unterstützung durch die Bürger findend“. Beides reicht nicht aus. Den Organisatoren eines Bürgerbegehrens geht es nicht darum, ein rechtlich korrektes Verfahren durchzuführen und eine große Anzahl von Unterschriften zu sammeln, sie wollen eine inhaltliche Sachfrage in ihrem Sinne entscheiden.

Dieses Ziel können sie grundsätzlich bereits mit einem Bürgerbegehren erreichen. Dazu heißt es in § 25 Abs.5 SächsGemO:

„Ein Bürgerentscheid entfällt, wenn der Gemeinderat die Durchführung der mit dem Bürgerbegehren verlangten Maßnahme beschließt.“

Zwei aktuelle Beispiele hierfür:

  • Im schleswig-holsteinischen Norderstedt hat die CDU den Ratsbeschluss zur Umwandlung der Stadtwerke in eine GmbH zurückgenommen, nachdem bei einem Bürgerbegehren 9.803 statt der benötigten 5.944 Unterschriften gesammelt worden waren (Hamburger Abendblatt, 4.11.2003).
  • Im sächsischen Weißwasser hat ein Bürgerbegehren Bürgermeister und Stadtrat veranlasst, eine Satzung, wonach die Friedhofsgebühren für die Dauer von fünf Jahren im Voraus zu zahlen sind, mit sofortiger Wirkung außer Kraft zu setzen (Sächsische Zeitung, 1.11.2003).

Dies ist ein direkt erfolgreiches Bürgerbegehren: die Organisatoren haben ihr Ziel erreicht, ohne dass es zum Bürgerentscheid kommen musste.

5. Zustimmungsquorum/Abstimmungsbeteiligung

Wenn der Rat das Anliegen nicht übernimmt – und das ist meistens so, weil er nach wie vor von der Richtigkeit seiner Beschlüsse überzeugt ist – dann folgt zwingend der Bürgerentscheid. Es sei denn, der Rat bestreitet die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens. Leider sind die Verfahrensregeln, insbesondere der Negativkatalog und die Fragestellung sowie der Finanzierungsvorschlag ein ständiger Quell juristischer Auseinandersetzungen. Tatsächlich gibt es keine allgemeinverbindlichen und ewig gültigen Regeln zu diesen Fragen, die Rechtsprechung dazu ist in ständigem Fluss.

Wenn es zum Bürgerentscheid kommt, geht es für die Organisatoren darum, die Abstimmung zu gewinnen. Hier treffen wir auf die letzte, die höchste Hürde in dem Verfahren: das „Zustimmungsquorum“. Dazu heißt es in der § 24 Abs.3 SächsGemO:

„Bei einem Bürgerentscheid ist die Frage in dem Sinne entschieden, in dem sie von der Mehrheit der gültigen Stimmen beantwortet wurde, sofern diese Mehrheit mindestens 25 vom Hundert der Stimmberechtigten beträgt.“

Der erste Teil des Satzes benennt eine Selbstverständlichkeit: ein Bürgerentscheid ist nur erfolgreich, wenn die Mehrheit zustimmt. Das ist die sogenannte „Mehrheitshürde“, die in den allermeisten Bürgerentscheiden spielend übersprungen wird. Das Nehmen dieser Hürde allein aber reicht nicht; denn es gilt auch die sogenannte „Quorumshürde“, wie sie im zweiten Teil des Satzes normiert ist. D.h. es muss nicht nur die Mehrheit der Abstimmenden für das Anliegen stimmen, sondern diese Mehrheit muss mindestens 25% der Stimmberechtigten ausmachen. Also ein Viertel derjenigen, die abstimmen dürfen, müssen dafür stimmen, unabhängig davon, ob sie an der Abstimmung überhaupt teilgenommen haben. In der Praxis bedeutet das, dass jede nicht abgegebene Stimme als Stimme gegen das Bürgerbegehren gewertet wird.

Das 25%-Quorum in Sachsen liegt im gesamtdeutschen Vergleich im Durchschnitt. Es geht aber auch niedriger: Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein verlangen 20%, Bayern hat ein gestaffeltes Quorum zwischen 10 und 20% je nach Gemeindegröße. In NRW sind in den letzten Jahren knapp Zweidrittel aller Bürgerentscheide am Quorum gescheitert. In diesen Fällen haben ganz einfach zu wenig Abstimmungsberechtigte am Bürgerentscheid teilgenommen.

Gründe für eine zu niedrige Abstimmungsbeteiligung sind leider nicht immer mangelndes Interesse der Bürger oder bewusste Stimmenthaltung. Vielmehr greifen die Stadtverwaltungen dort, wo das Abstimmungsverfahren nicht detailliert vorgeschrieben wird, gerne zu Verfahrentricks.

Ein Negativbeispiel war beim Bürgerentscheid in Aachen am 15. September 2002 zu beobachten.

  • In Aachen wussten viele Bürgerinnen und Bürger überhaupt nicht, dass ein Bürgerentscheid stattfand, denn es wurden keine schriftlichen Abstimmungsbenachrichtigungen verschickt.
  • In Aachen konnten manche Bürgerinnen und Bürger überhaupt nicht an der Abstimmung teilnehmen, denn es war keine Briefabstimmung möglich. Kranke, Senioren und Behinderte, aber auch alle Urlauber, die am Abstimmungstag nicht in ihr Wahllokal gehen konnten, wurden von der demokratischen Mitwirkung ausgeschlossen. Wenn man sich vor Augen führt, dass in Aachen – und die Zahl dürfte auch für andere Städte gültig sein – bei der letzten Bundestagswahl fast 22% der Stimmberechtigten die Stimme per Brief abgegeben haben, kann man einschätzen, welche Auswirkungen die Verhinderung der Briefabstimmung auf das Ergebnis des Bürgerentscheids hatte.
  • In anderen Städten gab es Bürgerentscheide, die mitten in den Ferienstattfanden, oder die an einem Wochentag durchgeführt wurden.
  • In Aachen fand die Abstimmung eine Woche vor der Bundestagswahl statt. Das hat dazu geführt, dass der Bürgerentscheid im allgemeinen Wahlkampf unterging. Besser wäre es gewesen, Bürgerentscheid und Bundestagswahl zusammen zu legen. Das hätte die Chancen zum Überspringen der Quorumshürde immens gesteigert. Denn wer zur Bundestagswahl geht, wird – gewissermaßen nebenbei – auch beim Bürgerentscheid abstimmen. Der Bürgerentscheid hätte von der hohen Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl profitiert. Aber dieser Zusammenhang war den Gegnern des  Bürgerbegehrens natürlich bekannt, und deshalb haben sie eine Zusammenlegung der beiden Abstimmungen nicht ermöglicht.

Grundsätzliches Problem des Zustimmungsquorums ist, dass es unlogisch und undemokratisch ist.
Unlogisch, weil es nur für Bürgerentscheide gilt, nicht aber für Bürgermeister- und Kommunalwahlen. Würde man das 25%-Quorum auf die OB-Wahlen in Dresden, Hoyerswerda, Leipzig und Zwickau anwenden, wären die Herrn Roßberg (22,8%), Brähmig (24,1%), Tiefensee (22%) und Vettermann (12,5%) nicht im Amt.
Das Zustimmungsquorum ist undemokratisch, weil Enthaltungen stillschweigend in „Nein-Stimmen“ umgedeutet werden. Das Quorum hebt das Wahlgeheimnis auf, weil sich jeder der zur Abstimmung geht, als Befürworter outet – denn wer dagegen ist, geht nicht hin.
Das Quorum kann dazu führen, wie das schon vielfach beobachtet wurde, dass Verwaltung und Ratsmehrheit zum Boykott aufrufen, gemäß dem Motto: Wer für uns ist, der braucht einfach nicht zur Abstimmung zu gehen, dann wird der Bürgerentscheid schon am Quorum scheitern. Eine solche Boykott- und Totschweig-Strategie stellt eine undemokratische Diskussionsverweigerung dar, denn sie verhindert, dass beide Seiten ihre Argumente offensiv vertreten und für ein Ja oder Nein bei der Abstimmung werben.
Damit ein Bürgerentscheid trotz der Quorumshürde zum Erfolg werden kann, sind seitens der Organisatoren große Anstrengungen nötig: es muss – wie beim Straßenwahlkampf – massiv für die Teilnahme am Bürgerentscheid geworben werden.

6. Direkt erfolgreicher Bürgerentscheid

Wenn der Bürgerentscheid erfolgreich war – und jetzt soll als Erfolg der Sieg bei der Abstimmung verstanden werden – hat er unmittelbare Konsequenzen. § 24 Abs. 4 SächsGemO:

„Der Bürgerentscheid steht einem Beschluß des Gemeinderats gleich. Er kann innerhalb von drei Jahren nur durch einen neuen Bürgerentscheid abgeändert werden.“

Die Verwaltung muss den Bürgerentscheid also nicht nur so umsetzen wie einen Ratsbeschluss; er hat auch – anders als ein Ratsbeschluss – eine höhere Bestandskraft. Das ist der direkt erfolgreiche Bürgerentscheid.

7. Wirkungen

Wenn am Abend des Abstimmungstages das Ergebnis im Rathaus diskutiert wird, wird sehr schnell nach Siegern und Verlierern gefragt. Das ist normal und ganz natürlich, schließlich haben wir es bei einem Bürgerentscheid mit einer Auseinandersetzung zu tun, bei der nur eine Seite gewinnen kann. Aber eine solche eindimensionale Sichtweise sollte überwunden werden. Denn jedes Bürgerbegehren und jeder Bürgerentscheid ist ein Erfolg – ein Erfolg für die kommunale Demokratie!

Bürgerbegehren und Bürgerentscheid haben eine Reihe von direkten und indirekten Wirkungen auf den politischen Prozeß, die zur Stärkung der örtlichen Demokatie beitragen – und zwar unabhängig davon, wie sie ausgehen. Auch ein gescheitertes Bürgerbegehren und ein verlorener Bürgerentscheid können so zu einem Erfolg werden.

Jedes Bürgerbegehren setzt ein Thema längerfristig auf die kommunalpolitische Tagesordnung. Natürlich wird auch ohne Bürgerbegehren heftig und kontrovers über kommunalpolitische Themen gestritten, aber durch das Bürgerbegehren und vor allem den Bürgerentscheid wird das Thema ausführlicher diskutiert. Menschen die ansonsten vielleicht keine Kenntnis von dem Vorgang erhalten hätten, werden mit der Angelegenheit konfrontiert. Man nennt das die Agenda-Setting-Funktion eines Bürgerbegehrens.

Aber nicht nur die Tatsache, dass überhaupt diskutiert wird, sondern auch wie diskutiert wird, wirkt sich positiv auf die örtliche politische Kultur aus. Wenn es keine Boykottstrategien gibt, sondern alle Aspekte eines Themas öffentlich diskutiert werden, führt das ganz zwangsläufig dazu, dass Entscheidungsprozesse transparenter werden. Die Befürworter einer Maßnahme, aber auch die Gegner, müssen ihre Beweggründe und Argumente offen legen. Es gibt Bürgerversammlungen, Informationsstände, Argumentationspapiere und eine ausführliche Debatte in den örtlichen Medien. Argumente, die sonst kein Gehör gefunden hätten, kommen nun zu Wort. Bürgerbegehren erhöhen die Transparenz politischer Prozesse.

Den politischen Akteuren in der Stadt eröffnen sich dabei vielfältige Chancen. Parteien und Fraktionen z.B., die aufgrund ihrer geringen Größe keine Möglichkeit hätten, den politischen Prozess zu beeinflussen, haben nun Gelegenheit, das mit einem Bürgerbegehren zu tun. Aber nicht nur Parteien, auch Bürgerinitiativen, Vereine und Verbände, und in kleineren Städten auch Einzelpersonen, erhalten mit dem Bürgerbegehren ein zusätzliches politisches Instrument. Der kommunalpolitische Entscheidungsprozess wird durch Bürgerbegehren und Bürgerentscheid bunter und vielfältiger.

Wenn es zum Bürgerentscheid kommt, verbreitert dieser die legitimatorische Basis einer Entscheidung. Es können dann statt – sagen wir – 58 Ratsmitgliedern 170.000 Stimmberechtigte über eine Sachfrage abstimmen. Es ist bedauerlich, wenn nicht jeder sein Stimmrecht wahrnimmt, aber es kann keiner mehr sagen, „die da oben haben Unsinn entschieden und die Bürger sind wie immer nicht gefragt worden“. Nein, beim Bürgerentscheid sind alle Bürgerinnen und Bürger gefragt – sie müssen sich nur noch äußern. Das ist die Legitimationsfunktion eines Bürgerentscheids.

Die Abstimmung selbst, der Bürgerentscheid, bringt ein verbindliches Ergebnis hervor. Rat und Verwaltung, aber auch die Bürger, müssen sich an das Ergebnis halten. Damit unterscheidet sich der Bürgerentscheid fundamental von allen anderen Bürgerbeteiligungsverfahren, die häufig interessante Ergebnisse bringen, aber für Rat und Verwaltung unverbindlich sind.

Aber ein Bürgerentscheid liefert nicht nur ein einmaliges verbindliches Abstimmungsergebnis, er ruft vielfach auch weiteres Bürgerengagement hervor. Mancher, der durch ein Bürgerbegehren politisiert wurde, engagiert sich danach dauerhaft politisch – sei es in anderen Bürgerinitiativen oder Vereinen, sei es in Parteien oder im Stadtrat. Oder Rat und Verwaltung initiieren nach einem Bürgerentscheid weitere Bürgerbeteiligungsverfahren. Der – erfolgreiche – Bürgerentscheid in Neuss am Rhein gegen die Verlagerung einer Straßenbahnlinie z.B. hat die Stadt dazu ermuntert, ein sogenanntes  Bürgergutachten erstellen zu lassen. In Hamburg-Altona hat bereits ein Bürgerbegehren zu einer Planungswerkstatt geführt, bei der Anlieger, Geschäftsleute und Politiker ein Konzept für die Einkaufsstraße „Große Bergstraße“ erarbeiteten (taz 28.10.2003). Bürgerbegehren und  Bürgerentscheid rufen nicht selten zusätzliches politisches Engagement und andere Formen der Bürgerbeteiligung hervor.

Schließlich hat das Instrument „Bürgerbegehren“ Vorwirkungen auf den politischen Prozess. Verwaltungen und Ratsmitglieder, die schon mal „Opfer“ eines Bürgerentscheids geworden sind, werden sich zukünftig zweimal überlegen, ob sie eine Entscheidung gegen den Willen der Bevölkerung durchpeitschen oder ob sie nicht zuvor versuchen, Akzeptanz dafür zu finden. In Karlsruhe beispielsweise fand am 22. September 2002 ein Bürgerentscheid statt, den die Stadt selbst anberaumt hatte. Es ging u.a. um die Frage der Untertunnelung der dortigen Fußgängerzone, die bei einem  früheren Bürgerentscheid abgelehnt worden war. Man hat daraus gelernt und ein umfangreiches, fast  ein Jahr dauerndes Bürgerbeteiligungsverfahren durchgeführt, um die Vorstellungen der Bevölkerung in die Planungen einzubeziehen. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid haben in solchen Fällen eine „Befriedungsfunktion“.

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass Bürgerbegehren und Bürgerentscheid ein Gewinn für die politische Kultur einer Gemeinde sind. Mit jedem Bürgerbegehren, das irgendwo stattfindet, wird das Instrument bekannter, und je bekannter es wird, desto stärker wird sein direkter und indirekter Einfluss auf den politischen Prozess und desto mehr entwickelt sich die kommunale Demokratie weiter.


© Andreas Paust, 2003